Digitalisierung & Technologie, 20. November 2025

Barrierefreiheitsstärkungsgesetz: Zwischen Hürden und Chancen

Zum Jahresende fragen wir: Geht das alles weit genug?

Barrierefreiheit

Seit diesem Sommer ist das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in Kraft. Was nach einem bürokratischen Zungenbrecher klingt, ist ein Meilenstein – und eine Herausforderung zugleich. Ähnlich wie bei der Einführung der DSGVO war die Aufregung bei Unternehmen zunächst groß: Wer oder was ist betroffen? Was ist Pflicht, was ein Nice-to-have? Zum Jahresende fragen wir: Geht das alles weit genug?

Deutschland hat lange gebraucht, um Barrierefreiheit nicht nur als sozialpolitisches, sondern als wirtschaftliches Thema zu begreifen. Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetzt zwingt Unternehmen, Verwaltungen und Dienstleister seit dem Sommer 2025 dazu, digitale Hürden abzubauen. Denn das Gesetz verankert erstmals verbindlich, dass digitale Angebote – von der Banking-App über den Ticketautomaten bis zum Online-Shop – so gestaltet sein müssen, dass sie von allen Menschen eigenständig genutzt werden können. Für Unternehmen bedeutete es zunächst einmal Arbeit – aber auch eine Chance, ihre Angebote kundenfreundlicher zu gestalten.

Vom europäischen Ideal zur deutschen Realität

Der European Accessibility Act, auf dem das BFSG beruht, wurde bereits 2019 beschlossen. Sein Anspruch: Ein einheitlicher EU-Binnenmarkt für barrierefreie Produkte und Dienstleistungen. In der Theorie sollen die Hersteller ihre barrierearmen Geräte und Softwarelösungen künftig in allen EU-Staaten vertreiben können, ohne unterschiedliche nationale Anforderungen erfüllen zu müssen. 2021 wurde das BFSG hierzulande verabschiedet – mit einer Übergangsfrist bis 2025. Fünf Jahre Vorlaufzeit, die Unternehmen hätten nutzen können. Nicht alle taten es.

Das lag vielleicht auch daran, dass Barrierefreiheit lange als Nischenthema galt – gerne auf Rampen und Aufzüge reduziert. Erst der zunehmende digitale Wandel und der Druck aus Brüssel brachten das Thema ins Zentrum. Hinzu kommen gesellschaftliche Veränderungen: eine alternde Bevölkerung, neue Arbeitsformen, mehr Online-Handel – alles das verlangte einfache, zugängliche digitale Lösungen – nicht als Sonderfall, sondern als Standard.

Was das Gesetz konkret verlangt

Das BFSG definiert, was barrierefrei sein muss – und wer dafür verantwortlich ist. Betroffene Produkte, Dienstleistungen bzw. Services sind Computer, Smartphones, Geldautomaten, Fahrkartenautomaten, Lesegeräte, E-Book-Software, Telekommunikationsgeräte, Banking-Apps, Ticketing-Portale, Navigations-Apps, digitale Kommunikationsdienste und natürlich E-Commerce-Websites. Blendet ein Online-Shop beispielsweise Pop-ups ein, die sich nicht schließen lassen oder den Bildschirm überdecken, verstößt das gegen das BFSG. Gleiches gilt, wenn Kontraste zu schwach oder Bedienelemente nicht per Tastatur erreichbar sind.

Die betroffenen Unternehmen müssen jetzt sicherstellen, dass ihre Produkte und digitalen Dienste jetzt den Anforderungen an Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit entsprechen – gemäß den vier Säulen der Barrierefreiheit nach WCAG 2.1 AA. Sie sind außerdem dazu angehalten, eine Barrierefreiheitserklärung zu veröffentlichen, die beschreibt, welche Teile ihres Angebots barrierefrei sind, wo Einschränkungen bestehen und wie Feedback eingereicht werden kann. Diese Erklärung ist mehr als eine Formalie: Sie schafft Transparenz und ermöglicht, gegen Verstöße vorgehen zu können.

Keine Regel ohne Ausnahmen und Fristen

Kleinstunternehmen sind von alledem teils ausgenommen – ebenso ältere Geräte, die vor dem Stichtag in Verkehr gebracht wurden. Für Selbstbedienungsterminals gilt eine Übergangsfrist bis 2040. Das ist nachvollziehbar, weil etwa die technische Umrüstung von Ticketautomaten aufwendig und kostspielig ist. Diese Ausnahmen und langen Fristen sorgen allerdings auch für Unmut. Sozialverbände sehen einen guten ersten Ansatz im Gesetz, kritisieren aber zugleich, dass es ausschließlich nur digitale Angebote oder Produkte regelt, nicht aber Treppen, Rampen oder Schilder. Zudem seien mit der Kleinstbetriebe-Regelung (weniger als zehn Beschäftigten) 82 Prozent aller Unternehmen betroffen. Der Blinden- und Sehbehindertenverband geht in seiner Kritik noch weiter: Das Gesetz verletzt aus dessen Sicht geltendes Recht. Gleichberechtigte Teilhabe werde nicht gesichert, wenn beispielsweise für Geldautomaten die Vorgaben erst in 15 Jahren verbindlich würden. Damit bliebe das Gesetz zur Teilhabe weiterhin Theorie.

Praxistest verdeutlicht Relevanz des BFSG

Wenige Wochen vor Inkrafttreten des BFSG zeigte die dritte gemeinsame Untersuchung von Aktion Mensch, Google und weiteren Partnern sehr deutlich, wie dringend verbindliche Regeln für digitale Barrierefreiheit gebraucht werden.

Getestet wurden 65 der Top 500 Webseiten, auf denen ein E-Commerce-Shop integriert ist und gleichzeitig die komplette „User Journey“ vom Durchsuchen bis zum Kaufabschluss abgebildet wird. Die Testung erfolgte durch erfahrene Menschen mit Behinderung. Dabei ging es um Alltagstauglichkeit: Lässt sich eine Seite per Tastatur bedienen? Können Nutzende Kontrast und Schriftgröße selbst einstellen? Sind Videos oder Audiodateien so gestaltet, dass sie sich einfach erfassen, pausieren oder beenden lassen?

Die Ergebnisse waren ernüchternd: Lediglich ein Drittel der Anbieter erfüllte die Grundprinzipien eines barrierearmen Onlineshops. Nur 20 konnten ohne Maus bedient werden. Bei der Mehrheit zeigten sich schlechte Kontraste und es gab keinen sichtbar oder farblich akzentuierten Fokusrahmen – Menschen mit einer Sehbehinderung wissen dann nicht, ob sie sich gerade im Warenkorb oder im Suchfeld befinden.

Wer kontrolliert die Umsetzung?

Da drängt sich die Frage auf: Wie und durch wen wird geprüft, ob Anbieter und Dienstleister, die unter das BFSG fallen, ihre Hausaufgaben gemacht haben? Eigentlich wäre das Ländersache. Man hat sich aber darauf verständigt, eine zentrale Stelle einzurichten: die Marktüberwachungsstelle der Länder für die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen, kurz MLBF. Die soll dafür sorgen, dass die Vorgaben bundesweit einheitlich durchgesetzt werden. Formal existiert die Behörde mit geplantem Sitz in Magdeburg seit 26. September 2025.

Strafen bis zu 100.000 Euro

Tatsächlich drohen empfindliche Strafen für Unternehmen, die trotz ausreichend Vorlaufzeit ihr digitales Angebot wie Onlineshops, Apps oder digitale Vertriebsprozesse noch nicht angepasst haben. Bis zu 100.000 Euro Bußgeld können fällig werden. Der Gesetzgeber kann sogar verlangen, dass ein Produkt bzw. eine Dienstleistung bis zur Nachbesserung offline genommen wird. Abmahnungen durch den Wettbewerb oder Interessens- und Verbraucherverbände sind ebenfalls möglich.

Solche Strafen können dafür sorgen, dass Regeln eingehalten werden – aber sie schaffen kein Bewusstsein. Denn viele Unternehmen haben das Thema Barrierefreiheit umgehend von ihrer Agenda genommen, sobald feststand, dass sie nicht betroffen sind. Das ist schade. Denn jede Website, die barrierearm erstellt wurde, ist nicht nur angenehm für Menschen mit einer Behinderung.

Möglichkeiten, Barrierefreiheit im Unternehmen voranzutreiben

Das eigentliche Problem ist dabei weniger das Geld, sondern eher die Haltung. Viele verstehen Barrierefreiheit immer noch als Sonderleistung für wenige statt als Selbstverständlichkeit für alle. Dabei profitieren auch Menschen ohne Behinderung von besserer Lesbarkeit, klareren Strukturen, einer einfacheren Bedienung und verständlicherer Sprache.

Künstliche Intelligenz kann auch in diesem Bereich schon heute entlasten. Nehmen wir eine Website, auf der Content täglich aktualisiert werden muss. Die KI kann diesen bereits gut und schnell in einfache Sprache umwandeln oder aber Übersetzungen, Alt-Texte und passendes Bildmaterial generieren. Am Ende sollte es allerdings immer noch eine menschliche Instanz geben, die das Ergebnis kontrolliert. Denn für Feinheiten braucht es weiterhin menschliches Feingespür mit Blick auf Zusammenhänge und Nuancen.

Tools wie wave.webaim.org liefern gute erste Analysen für Websites, ersetzen aber nicht die inhaltliche Arbeit. Auch der Content muss gut strukturiert, die Überschriften-Hierarchie eindeutig, Medien ausreichend für Screenreader beschrieben sein und vieles mehr. Für die reibungslose Umsetzung inklusiver, barrierefreier Webseiten bei ERGO sorgt das Start-up Eye-Able, zugleich Partner in unserem ERGO ScaleHub. Die Plattform von Eye-Able macht es einfach, jede Seite entsprechend zu optimieren.


„Barrierefreiheit per Klick“

Wie Eye-Able und ERGO digitale Inklusion vorantreiben, und warum Barrierefreiheit mehr ist als nur Gesetzeserfüllung, erklärt uns Eye-Able-Gründer Chris Schmidt im Interview.


Barrierefreiheit gehört in die Mitte der Gesellschaft

Für eine moderne und aufgeschlossene Gesellschaft ist es wünschenswert, dass das Thema Barrierefreiheit noch stärker als selbstverständlicher Bestandteil des Alltags verstanden wird. Das BFSG ist ein wichtiger Baustein, weil es auf breiter Basis entstanden ist – etwa durch die UN-Behindertenrechtskonvention und ein wachsendes Bewusstsein in der Gesellschaft. Barrierefreiheit sollte insgesamt aus der „Sonderrolle“ herausgeholt und überall dort mitgedacht werden, wo Menschen lernen, arbeiten und wohnen. Weg von dem „Wir machen das nur für diese rund zehn Prozent der Menschen mit einer Behinderung“ hin zu einem „Wir machen das so“. Punkt. Auch mit Blick auf eine zunehmend überalternde Gesellschaft erscheint dies ein guter Gedanke.

Als Nächstes könnten wir im Digitalen über mehr Barrierefreiheit auf Social Media-Plattformen nachdenken. Ein Selbstversuch des Deutschlandfunks zeigt, dass selbst öffentlich-rechtliche Inhalte dort oft nicht barrierefrei sind. Echte digitale Teilhabe ließe sich erreichen, wenn Plattformen Verantwortung übernehmen – etwa, indem kein Bild ohne Alt-Text veröffentlicht werden kann.

Text: Alexa Brandt


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